Katharina Sämann wuchs in dem als »Künstlerdorf« bekannten Worpswede bei Bremen auf. Sie fühlte sich dort aber nicht wohl und lebte ab ihrem 18. Lebensjahr in anderen Städten und im Ausland. Als Rentnerin kehrte sie 2010 in das Haus ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Anna Sämann zurück und arbeitete ehrenamtlich in einem kleinen Kunstmuseum. Sie versuchte, mehr über ihren Vater herauszufinden. Erlebnisse in ihrer Kindheit ließen sie vermuten, ihr Vater könnte ein sowjetischer Kriegsgefangener gewesen sein. Erst als Katharina mit 21 Jahren heiraten wollte, erfuhr sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter den Namen ihres Vaters. In den 1980er-Jahren reiste Katharina mit ihrer Mutter in die Sowjetunion. Sie hoffte auf ein klärendes Gespräch über die Geschichte ihrer Eltern während dieses gemeinsamen Urlaubs. Dazu kam es aber erst im Jahr 2000. Damals beteiligten sich beide an einer Dokumentation über Frauen, die im Nationalsozialismus wegen Beziehungen zu Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen verurteilt worden waren. Katharina weiß heute, dass ihr Vater aus Moskau kam und bereits verheiratet war, als er Anna Sämann kennenlernte. Daher hat Katharina nicht versucht, seine Familie zu kontaktieren.
»Kinder fragen nicht, wenn sie das Gefühl haben, es ist nicht erwünscht.«
Das Bild zeigt einen der wenigen gemeinsamen Momente Katharinas mit ihrer Mutter. Weil Anna Sämann nach Kriegsende in Delmenhorst arbeitete, wuchs Katharina überwiegend bei ihren Großeltern in Worpswede auf.
Foto: unbekannt. Privatbesitz Sämann
Die überstellte Wassilij Koslow aus dem Kriegsgefangenenlager X B Sandbostel an die in Bremen. Für die Beziehung zu Anna drohte ihm die Todesstrafe. Sein weiteres Schicksal ist bis heute nicht geklärt.
Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Podolsk
Anna Sämann arbeitete in einer kleinen Molkerei in der Nähe von Bremen. Sie nahm dort die Milchlieferungen aus den umliegenden Dörfern an. Während des Zweiten Weltkrieges ließen viele Landwirt*innen ihre Milch von den Kriegsgefangenen, die auf ihren Höfen arbeiten mussten, zur Molkerei bringen. Einer dieser Kriegsgefangenen war Wassilij Petrowitsch Koslow aus der Sowjetunion. Obwohl sie sich kaum verständigen konnten, verliebten sich Anna und Wassilij und trafen sich heimlich nach der Arbeit. Möglich war dies nur, weil andere weggesehen haben. Als Anna schwanger wurde, wurde die Beziehung an die Polizei verraten, die Anna nach Katharinas Geburt verhaftete. Im Januar 1945 verurteilte das Amtsgericht Bremen sie zu einer 15-monatigen Zuchthausstrafe und zu 3 Jahren Ehrverlust. Kurz vor Kriegsende wurde Anna Sämann vorzeitig entlassen.
Am 22. Juni 1941 begann das Deutsche Reich mit seinen Verbündeten einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In der nationalsozialistischen Rassenideologie galten große Teile der sowjetischen Bevölkerung als »minderwertig«. Dies bestimmte auch die Behandlung der kriegsgefangenen Soldat*innen durch die deutsche Wehrmacht. Jüdinnen*Juden sowie politische Offizier*innen und zu Beginn alle Frauen wurden überwiegend sofort ermordet. Die anderen Kriegsgefangenen brachte die Wehrmacht zunächst in Durchgangslagern an der Front unter und transportierte sie später zum Arbeitseinsatz in das Reichsgebiet. Bis 1945 starben etwa 3,3 Millionen der insgesamt 5,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft durch Hunger, Krankheiten, Arbeit und Gewalt.
Sowjetische Kriegsgefangene wurden von der Wehrmacht schlechter untergebracht und versorgt und härteren Arbeitskommandos zugeteilt als Kriegsgefangene aus anderen Ländern.
Foto: unbekannt. Gedenkstätte Lager Sandbostel
Katharina Sämann hatte schon in ihrer Schulzeit das Gefühl, anders zu sein als die anderen Kinder. Weil ihr Vater ein sowjetischer Kriegsgefangener gewesen war, riefen Mitschüler*innen ihr »Russenkind, Russenkind!« hinterher. Die Kinder übernahmen so die abwertenden Haltungen ihrer Eltern. Der Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa wirkte nach dem Ende des Nationalsozialismus auch vor dem Hintergrund des der Kalten Krieges weiter. Als Katharina Mitte der 1960er-Jahre heiraten wollte, soll der Vater ihres Verlobten gesagt haben: »Was, du willst die heiraten? Von so einer?« Zurückgekehrt nach Worpswede sprach sie frühere Mitschüler*innen auf die Schmähungen in der Schulzeit an, sie wollten sich daran jedoch nicht erinnern.
Katharina Sämann geht heute selbstbewusst mit ihrer Familiengeschichte um. Sie engagiert sich auch für die Gedenkstätte Lager Sandbostel, von der sie bei ihrer Suche nach ihrem Vater unterstützt wurde.
Foto: Johanna Becker. Gedenkstätte Lager Sandbostel
Katharina Sämann wuchs in dem als »Künstlerdorf« bekannten Worpswede bei Bremen auf. Sie fühlte sich dort aber nicht wohl und lebte ab ihrem 18. Lebensjahr in anderen Städten und im Ausland. Als Rentnerin kehrte sie 2010 in das Haus ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Anna Sämann zurück und arbeitete ehrenamtlich in einem kleinen Kunstmuseum. Sie versuchte, mehr über ihren Vater herauszufinden. Erlebnisse in ihrer Kindheit ließen sie vermuten, ihr Vater könnte ein sowjetischer Kriegsgefangener gewesen sein. Erst als Katharina mit 21 Jahren heiraten wollte, erfuhr sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter den Namen ihres Vaters. In den 1980er-Jahren reiste Katharina mit ihrer Mutter in die Sowjetunion. Sie hoffte auf ein klärendes Gespräch über die Geschichte ihrer Eltern während dieses gemeinsamen Urlaubs. Dazu kam es aber erst im Jahr 2000. Damals beteiligten sich beide an einer Dokumentation über Frauen, die im Nationalsozialismus wegen Beziehungen zu Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen verurteilt worden waren. Katharina weiß heute, dass ihr Vater aus Moskau kam und bereits verheiratet war, als er Anna Sämann kennenlernte. Daher hat Katharina nicht versucht, seine Familie zu kontaktieren.
»Kinder fragen nicht, wenn sie das Gefühl haben, es ist nicht erwünscht.«
Das Bild zeigt einen der wenigen gemeinsamen Momente Katharinas mit ihrer Mutter. Weil Anna Sämann nach Kriegsende in Delmenhorst arbeitete, wuchs Katharina überwiegend bei ihren Großeltern in Worpswede auf.
Foto: unbekannt. Privatbesitz Sämann
Die überstellte Wassilij Koslow aus dem Kriegsgefangenenlager X B Sandbostel an die in Bremen. Für die Beziehung zu Anna drohte ihm die Todesstrafe. Sein weiteres Schicksal ist bis heute nicht geklärt.
Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Podolsk
Anna Sämann arbeitete in einer kleinen Molkerei in der Nähe von Bremen. Sie nahm dort die Milchlieferungen aus den umliegenden Dörfern an. Während des Zweiten Weltkrieges ließen viele Landwirt*innen ihre Milch von den Kriegsgefangenen, die auf ihren Höfen arbeiten mussten, zur Molkerei bringen. Einer dieser Kriegsgefangenen war Wassilij Petrowitsch Koslow aus der Sowjetunion. Obwohl sie sich kaum verständigen konnten, verliebten sich Anna und Wassilij und trafen sich heimlich nach der Arbeit. Möglich war dies nur, weil andere weggesehen haben. Als Anna schwanger wurde, wurde die Beziehung an die Polizei verraten, die Anna nach Katharinas Geburt verhaftete. Im Januar 1945 verurteilte das Amtsgericht Bremen sie zu einer 15-monatigen Zuchthausstrafe und zu 3 Jahren Ehrverlust. Kurz vor Kriegsende wurde Anna Sämann vorzeitig entlassen.
Am 22. Juni 1941 begann das Deutsche Reich mit seinen Verbündeten einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. In der nationalsozialistischen Rassenideologie galten große Teile der sowjetischen Bevölkerung als »minderwertig«. Dies bestimmte auch die Behandlung der kriegsgefangenen Soldat*innen durch die deutsche Wehrmacht. Jüdinnen*Juden sowie politische Offizier*innen und zu Beginn alle Frauen wurden überwiegend sofort ermordet. Die anderen Kriegsgefangenen brachte die Wehrmacht zunächst in Durchgangslagern an der Front unter und transportierte sie später zum Arbeitseinsatz in das Reichsgebiet. Bis 1945 starben etwa 3,3 Millionen der insgesamt 5,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft durch Hunger, Krankheiten, Arbeit und Gewalt.
Sowjetische Kriegsgefangene wurden von der Wehrmacht schlechter untergebracht und versorgt und härteren Arbeitskommandos zugeteilt als Kriegsgefangene aus anderen Ländern.
Foto: unbekannt. Gedenkstätte Lager Sandbostel
Katharina Sämann hatte schon in ihrer Schulzeit das Gefühl, anders zu sein als die anderen Kinder. Weil ihr Vater ein sowjetischer Kriegsgefangener gewesen war, riefen Mitschüler*innen ihr »Russenkind, Russenkind!« hinterher. Die Kinder übernahmen so die abwertenden Haltungen ihrer Eltern. Der Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa wirkte nach dem Ende des Nationalsozialismus auch vor dem Hintergrund des der Kalten Krieges weiter. Als Katharina Mitte der 1960er-Jahre heiraten wollte, soll der Vater ihres Verlobten gesagt haben: »Was, du willst die heiraten? Von so einer?« Zurückgekehrt nach Worpswede sprach sie frühere Mitschüler*innen auf die Schmähungen in der Schulzeit an, sie wollten sich daran jedoch nicht erinnern.
Katharina Sämann geht heute selbstbewusst mit ihrer Familiengeschichte um. Sie engagiert sich auch für die Gedenkstätte Lager Sandbostel, von der sie bei ihrer Suche nach ihrem Vater unterstützt wurde.
Foto: Johanna Becker. Gedenkstätte Lager Sandbostel
trotzdem da! – Kinder aus verbotenen Beziehungen zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter*innen ist ein Projekt der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Es wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Kooperationspartner*innen sind die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, das Projekt Multi-peRSPEKTif (Denkort Bunker Valentin / Landeszentrale für politische Bildung Bremen) und das Kompetenzzentrum für Lehrer(innen)fortbildung Bad Bederkesa.
trotzdem da! – Kinder aus verbotenen Beziehungen zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter*innen ist ein Projekt der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Es wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.
Kooperationspartner*innen sind die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, das Projekt Multi-peRSPEKTif (Denkort Bunker Valentin / Landeszentrale für politische Bildung Bremen) und das Kompetenzzentrum für Lehrer(innen)fortbildung Bad Bederkesa.